Mitgefühl verfassen
Schreiben Sie an dieser Stelle einige freie Worte, drücken Sie Ihr Mitgefühl mit einem Gedicht oder Zitat aus, oder verfassen Sie einige persönliche Worte, wenn Sie den Verstorbenen kannten.
Eine goldene Kerze für Jessica
Gestorben am 01.03.2005 in Hamburg
wurde von Beate eine Kerze entzündet.
Sie wollten normal sein und taten das Unfassbare: Die Eltern der kleinen Jessica aus Hamburg ließen ihre Tochter qualvoll verhungern und müssen nun lebenslang in Haft. Aber wie konnte es so weit kommen? Die Suche nach den Gründen lässt am Ende des Prozesses alle Beteiligten ratlos.
Hamburg - "Normal" - dieses unscheinbare Wörtchen geisterte immer wieder durch den Saal 237 des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg. Es geht um etwas extrem Abnormales, den qualvollen Tod der kleinen Jessica, die am 1. März 2005 im Alter von sieben Jahren starb. Das völlig ausgezehrte Kind erstickte am eigenen Erbrochenen.
Laut Gutachten verlief die Entwicklung des Kindes zunächst "normal", Jessica bekam "normal" zu essen, konnte laufen, allein zur Toilette gehen, ein paar Wörter sprechen. Doch aus der relativen Normalität wurde das blanke Grauen. Am Ende steht ein Urteil: Die Eltern, Marlies Sch., 36, und Burkhard M., 50, werden des Mordes durch Unterlassen schuldig gesprochen und zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.
Die beiden haben ihre Tochter Jessica über Jahre hinweg vernachlässigt, eingesperrt und gequält. Die Aussagen der Eltern sind sehr widersprüchlich. Beide haben sich immerhin geäußert, Vater M. nur bei der Polizei, Mutter Sch. sagte auch vor Gericht aus. Nach Überzeugung des Gerichts haben sie ihre Tochter Jessica sterben lassen, gefühllos, mitleidlos, nur geleitet von Eigennutz.
Gleichgültigkeit angesichts des Grauens
"Handlungen wie diese übersteigen eigentlich die Vorstellungskraft", sagt der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg. "Was Jessica erdulden musste, ist furchtbar." Die Eltern hören dies alles, die Aufzählung der Grausamkeiten, das entsetzte Raunen im Publikum, das Urteil "lebenslänglich". Sie reagieren nicht. Man hätte sie an den Schultern greifen und schütteln mögen, ihnen zurufen, dass sie es sind, um die es hier geht.
Doch Vater Burkhard M. sitzt in Jeans und weißem Shirt apathisch auf der Anklagebank und starrt teilnahmslos vor sich hin. Einmal - der Richter spricht gerade darüber, dass M. genau Bescheid wusste über Jessicas Zustand - schüttelt er schlapp den Kopf. Wüsste man es nicht besser, man würde nicht auf den Gedanken kommen, dass es seine Tochter ist, die diesen grausigen Tod sterben musste, und dass er es war, der dazu beigetragen hat. Dass er überhaupt etwas mit dieser Gerichtsverhandlung zu tun hat. M. starrt ins Leere.
"Zug ins Verhängnis"
Marlies Sch. hockt, wie an allen anderen Verhandlungstagen auch, zusammengesunken an einem Tisch, der quer zur Anklagebank steht. Sie dreht den Zuschauern den Rücken zu, die rechte Hand verdeckt das Gesicht, der Kopf ist zur Seite gewandt, der Blick an die Wand geheftet. Es scheint, als wolle sie sich selbst vorgaukeln, dass man sie so nicht sehen könne. Ihr Gesicht hält sie sorgsam vor den Blicken anderer verborgen. Eine Reaktion auf irgendetwas, das im Saal geschieht, ist nicht zu erkennen.
Der Bruch, mit dem normales Verhalten zu krass abnormem wurde, geschah vermutlich nach einem Umzug, als Sch. und M. mit dem drei Jahre alten Kind eine gemeinsame Wohnung im Hamburger Stadtteil Jenfeld bezogen. Das Paar verlor durch den Umzug ein halbwegs intaktes soziales Netz. Ein schleichender Prozess begann, und im Lauf der Zeit wurde Jessicas Leben zum blanken Grauen. "Der Zug ins Verhängnis nahm langsam Fahrt auf" - so formuliert es Richter Schaberg.
Das Mädchen vegetierte in seinen letzten Lebensjahren im Dämmerlicht dahin, eingesperrt in ein Zimmer, dessen Fenster zugeschraubt und mit Folie abgeklebt waren. Aus der Wand ragte ein blanker Draht, der unter Spannung stand. Es gab kein Licht immer Zimmer, Schimmel wucherte an der Decke, es roch muffig. Die Polizei stellte später fest, dass der Putz bis zu einer Höhe von 1,10 Metern von der Wand gekratzt war. Der Teppich war an vielen Stellen aufgedröselt oder zerrissen. Jessica soll in ihrer Not die Flusen gegessen haben. Während Jessica in ihrem Verlies unvorstellbare Qualen litt, gingen ihre Eltern aus. Das Kind sollte dabei nicht stören. "Sie wollten ihr eigenes Leben in Kneipen, bei Freunden oder beim Dartspielen leben", sagt Schaberg.
Fotos von der Katze, nicht vom Kind
Es gibt keine Fotos von Jessica aus der Zeit nach dem Umzug. Warum? Der Fotoapparat sei kaputt gegangen, haben die Eltern behauptet. Das sei gelogen, sagt Schaberg. Denn es gibt sehr wohl Aufnahmen aus dieser Zeit. Sie zeigen nur nicht Jessica. Auf den Fotos ist der Kater zu sehen, den sich M. und Sch. zulegten. "Die Katze bekam etwas zu fressen, Jessica musste hungern; die Katze durfte sich in der Wohnung frei bewegen, Jessica war in einem modrigen Zimmer eingesperrt", sagt Schaberg. Neben die körperliche Vernachlässigung sei mehr und mehr die seelische Qual für das Kind getreten.
Nach Überzeugung des Gerichts waren sich sowohl Mutter als auch Vater darüber im Klaren, dass es falsch ist, was sie tun. Dass man Kinder füttern muss, mit ihnen spielen und an die frische Luft gehen muss, dass man sie nicht in dunklen Zimmern einsperren darf. Beide hätten genau gewusst, dass Jessica sterben würde, wenn sie nichts änderten, und dies hätten billigend in Kauf genommen, sagte der Richter.
Marlies Sch. erlebte selbst eine schreckliche Kindheit und wurde immer wieder von ihrer trinkenden Mutter gedemütigt. Sch. empfinde ihrer Mutter gegenüber glühenden Hass und habe mit der eigenen Mutterrolle zunehmend überfordert gefühlt, sagt der Richter. Kinder habe sie als Feinde wahrgenommen, die abgewehrt werden müssten.
"Gefühlsmäßig verarmt und fatalistisch"
Burkhard M. hatte gegenüber seinem psychiatrischen Gutachter behauptet, ihm sei Jessicas Zustand nicht bekannt gewesen, er habe sie vor ihren Tod mehrere Monate nicht gesehen. Auch das ist falsch, urteilt das Gericht. Er habe "hinter der Fassade eines intakten Familienlebens" verschleiert, wie es seiner Tochter tatsächlich ging. Einem Kollegen erzählte er etwa stolz von der Einschulung seines Kindes, die es nie gab. M. sei ein "gefühlsmäßig verarmter und fatalistischer Mann", habe sich aber dennoch aktiv am Mord beteiligt. Er könne sich nicht darauf berufen, nichts gewusst zu haben. Die Stromfalle im Zimmer des Kindes, ein blanker Draht, der unter Spannung stand und weit aus der Wand ragte, habe M. angebracht. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie gemeinschaftlich den Tod ihrer Tochter in Kauf genommen. Beide hätten gehofft, dass Jessica den Draht anfasst und an einem Stromschlag stirbt. "Der Zug war nicht mehr aufzuhalten", sagt Schaberg.
Das Gericht folgte mit dem Urteil den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Die Verteidiger, die auf Körperverletzung mit Todesfolge plädiert hatten, sind mit dem Urteil nicht zufrieden. Beide wollen in den nächsten Tagen prüfen, ob eine Revision in Frage kommt. Eine Antwort auf das Warum hat keiner der Beteiligten gefunden. "Eine solche Tat macht auch ein Schwurgericht ratlos", sagte der Vorsitzende Richter. Das Leben sei unerklärlich, chaotisch und voller Grausamkeiten, die Menschen anderen antun. "Das Gericht weiß auch keine genaue Antwort."
Normal wollten Marlies Sch. und Burkhard M. immer sein, ein normales Leben führen wie alle anderen. Warum ihnen das nun ganz und gar nicht gelungen ist, darauf wird es womöglich keine zufrieden stellende Antwort geben. Leben und Sterben der kleinen Jessica hatten nichts mit Normalität zu tun. Das Streben nach dem Durchschnitt ist fatal gescheitert, und vielleicht sehnt man sich gerade deswegen so sehr nach einer Antwort.